Sexismus: Eine Einzelfahrt durch die Werbehölle

Nuri[t] träumt von einer Stadt ohne sexistische Werbung. 


Dieser Artikel thematisiert Sexistische Werbung, Sexismus.


Die Lyrics von Stella Donnelly und Courtney Barnett begleiten mich an diesem Abend auf den neun Haltestellen zwischen Friedrichshain und Wedding. Die Musik auf meinen Ohren habe ich mir ausgesucht, die restlichen Eindrücke der Fahrt nicht unbedingt. Ungewollt aber unvermeidbar prasseln auf dieser Einzelfahrt die Ausgeburten der Werbebranche auf mich ein. Dieses Netz bestehend aus Plakaten, Werbetafeln und Glanzreklamen hat den öffentlichen Raum erobert. Es verfolgt die Bevölkerung auf Straßen und Plätzen der Städte, entlang der Autobahnen, an Bahnhöfen und Flughäfen, im Linien-, Nah- und Fernverkehr. So lange, bis du und ich die 24-stündige Dauerbeschallung an 365 Tagen im Jahr nicht mehr hinterfragen, bis wir uns über diesen kapitalistischen Wahnsinn kaum noch beklagen.

Bereits auf meinen ersten Metern zwischen Haustür und Ringbahn drängt sich mir ein Riesenposter auf und gewinnt meine Aufmerksamkeit. Ich sehe volle Lippen und einen makellosen, ebenmäßigen Teint. Eine Photoshopschönheit mit ausgeprägten Wangenknochen und eisblauen Augen soll mir hier ein neues Must-Have zur Selbstoptimierung verkaufen. Dabei erzählt sie mir vor allem eine Geschichte über Schönheitsideale. Ich stelle mir bildlich vor, wie sie elegant aus ihrem Poster schreitet und mein ungeschminktes Gesicht beäugt, um zu begutachten, welches Wundermittel dieses Schlachtfeld noch retten könnte. Rebellisch und trotzig würde ich ihr entgegnen, dass meiner Meinung nach nichts so viel Zeit und Energie kostet wie sich auf solche Weise zu schminken, dass frau* perfekt, aber ungeschminkt erscheint. Wir werden genötigt, uns ständig aktiv einer Norm zu nähern, die schon immer eine Illusion verkörpert hat. Ich erinnere mich, wie meine Mutter mir zum ersten Mal gesagt hat, sie gehe nicht ohne Schminke aus dem Haus. Ich erinnere mich, wie ich einmal versucht habe, auszurechnen, wie viele Tage (ach, Monate!) im Leben meiner Mutter für Lidschatten, Concealer und Anti-Falten-Creme draufgegangen sind. Allein der Versuch, das zu schätzen, bereitete mir als Jugendliche Kopfschmerzen und trieb mich dazu, ein äußerst angespanntes Verhältnis zur Make-up-Industrie aufzubauen. Dennoch hat mich die Propaganda gesundheitsschädlicher Schönheits- und Schlankheitsnormen seit jeher begleitet. Und ich würde nicht nur dich, sondern auch mich anlügen, wenn ich behaupte, dass das nichts mit mir gemacht hätte.

Zwischen in sich versunkenen Gestalten sitze ich in der S42, blicke aus dem Fenster und zähle die Haltestellen. Ich sehe eine Reklame, die eine der Stationen verziert, oder sollte ich besser schreiben: verschmiert? Da steht geschrieben, Scheiben putzen sei „Männersache. Zumindest bis 42 mm Durchmesser“. Darunter prangt das Bild einer schwarzen Uhr mit silbernem Ziffernblatt. Der Rückgriff auf eingestaubte Geschlechterrollen ärgert mich. Hier geht es nicht um eine Uhr, vielmehr wird mir die Geschichte der Frau als Hausfrau erzählt. Fenster putzen, Herdplatten abwischen und Böden schrubben: Das ist ihr Schicksal. Und somit auch meins. Denn ich habe eine Vulva! Irgendwie soll mich mein Frausein dazu qualifizieren, magische Fähigkeiten in Sachen Haushaltsführung an den Tag zu legen. Betty Friedan beschrieb bereits 1963 in ihrem Beitrag „The Problem That Has No Name“, warum das Ideal der jungen vorstädtischen Hausfrau US-amerikanische Frauen für über 15 Jahre mit einem Gefühl der Leere zurückließ. Denn weibliche Identität konnte sich noch nie, kann sich nicht und wird sich auch niemals auf ein Leben als häusliche Pflegekraft für Kinder, Haus und Hof reduzieren lassen. Frauen sind mehr als eindimensionale Geschichten, die von weißen Männern geschrieben werden. Alles andere bringt uns zu „The Danger Of A Single Story“ von Chimamanda Ngozi Adichie. Meine Mutter hat mir in meiner Jugend ein Geschenk gemacht. Sie verlangte nie von mir, mich im Haushalt zu engagieren, meine gottgegebenen Eigenschaften zu trainieren. Ich will mehr sein dürfen als ein altes Rollenklischee. Denn ich bin Subjekt, nicht Objekt. Ich will kein Stück, ich will den ganzen Kuchen!

Nach dem Umsteigen in die U9 lasse ich mich erschöpft in den Sitz fallen und werde sogleich durchs Berliner Fenster in den nächsten Tagtraum gezogen. Ich sehe glatte Haut am Badestrand: „Preise wie die Bademode: Ein Hauch von Nichts.“ Hier sollen Last-Minute-Schnäppchen von L’TUR die Stadtbevölkerung in die Sonne bringen. Das Produkt wird — es war nicht anders zu erwarten — mit einem weiblichen Körper beworben. Die abgebildete Frau ist lediglich von hinten mit Fokus auf die Hüfte abwärts zu sehen. Sie ist dargestellt als Objekt, ist jetzt ein sexualisierter Körper ohne Eigenschaften. Die Werbeanzeige suggeriert: Dieser Körper ist sexuell verfügbar, er ist käuflich — mitsamt des Produkts. Der zur Schau gestellte Arsch erzählt mir keine Geschichte von Urlaub, sondern er sagt mir, dass ich einen Knackarsch brauche, um sexy zu sein. Sonne, Strand und Cocktails: Dazu braucht ein Frauenkörper Idealmaße. Im Zyklus der Jahreszeiten gilt es, den eigenen Körper in Form zu bringen. Vom vorgesetzten Neujahrsvorsatz („Der Speck muss weg“) bis zur Urlaubsplanung („Jetzt noch schnell eine Bikini-Figur hungern!“).

Dabei werden Frauen unabhängig von ihrem Äußeren sexualisiert. Das jedoch löste bisher noch keine Massenpanik aus. Stinknormale Schwangerschaftsstreifen und Fettröllchen tun es hingegen alle Jahre wieder. Hässlich oder dick zu sein, scheint zu den größten Ängsten unserer Gesellschaft zu gehören.

Ich habe Schwangerschaftsstreifen. An meinen inneren und äußeren Oberschenkeln ist die Haut aufgerissen. Meine Haut erzählt eine Geschichte vom Essen und Nicht-Essen, eine Geschichte von verschiedenen Körpergrößen und -formen. Mit 14, mit 19, mit 26 Jahren. Meine Haut erzählt Geschichten von mir. Doch all diese Geschichten sollen nicht erzählt, sollen nicht gehört werden. Stattdessen soll ich mich mit Cremes und Ölen ins nächste Schönheitslevel schmieren. Oder mich am besten gleich einer Laserbehandlung oder einem operativen Eingriff unterziehen. Aber was, wenn ich will, dass du über die Dehnungsstreifen meiner Innenschenkel streichst, dass du mir deshalb nicht von der Seite weichst? Was, wenn ich will, dass du mit deiner Zunge lustvoll an ihnen entlang leckst, sie mit Küssen bedeckst?  

Auf dieser Einzelfahrt sind mir ganz andere Geschichten erzählt worden. Sie handeln davon, wie ich auszusehen habe, für wen mein Körper existiert, was für eine Rolle ich zu spielen habe. In diesem Moment habe ich keine Lust mehr auf falsche Tagträume. Ich will was Richtiges träumen. Träumst du mit?

Dann stell dir vor, es wär’ Revolution! Stell dir vor, da wären Bäume anstelle von Werbetafeln in unseren Städten! Wenn du die Kackscheiße nicht kaufen magst, dann verliert der Markt an Kaufkraft. Wer kauft wohl noch Push-up-BHs, wenn du und ich und wir alle akzeptieren, dass Titten halt Titten sind, unabhängig von ihren Größen, Oberflächen und Formen. Wenn Frauen* sich und ihre Körper mögen, dann können Jolie, Maxi und Brigitte ihre Redaktionen dichtmachen. Denn wer liest dann noch so genannte Frauenzeitschriften, wer lässt sich noch Diäten empfehlen, die zu Durchfall, Frust und Depression führen? Wer glaubt noch an den Schwachsinn, den der Kapitalismus uns vorgaukelt?

Wenn du dich magst, gewinnt die Gesellschaft an Wert. Dann sehen wir die Schönheit unserer einzigartigen Körper. Dann sehen wir die Besonderheiten anstelle der Makel. Dann berührst du mich, und ich genieße nicht nur dich, sondern auch mich.

 

 

 

Verweise

Berlin Werbefrei setzt sich für ein Ende des Reklame-Wahnsinns ein und möchte mithilfe eines Volksentscheids eine deutliche Reduktion von kommerzieller Außenwerbung im öffentlichen Raum erzielen. Die erste Hürde hierzu wurde mit  32.456 gültigen Unterschriften bereits genommen. Mehr Informationen unter: https://berlin-werbefrei.de/

PinkStinks engagiert sich seit mehreren Jahren für ein Gesetz gegen Sexismus in der Werbung. Über ihr neues Projekt „Werbemelder*in“ kann sexistische Werbung gemeldet und durch eine interaktive Karte sichtbar gemacht werden:  https://werbemelder.in/


von Nuri[t]

Nuri[t] ist Wahlberlinerin und bewegt sich hier gern in autonomen und kollektiv organisierten Räumen. Sie steht regelmäßig hinter dem Tresen einer Neuköllner Kollektivbar. Sie hat Freude am Improvisieren bei den wöchentlichen Proben ihrer FLTI*-Theatergruppe und ist häufig beim Schikkimikki anzutreffen – mit einem feministischen Zine in der Hand.